Eine Diskussion mit Paul Kimberger..

Anstoß einer Diskussion war ein Interview Paul Kimbergers mit dem Kurier. Dieses ist hier nachzulesen:  https://kurier.at/politik/inland/pflicht-zur-fruehfoerderung-oder-der-staat-sollte-kindergeld-kuerzen/400407857

 

Vor allem diese Passage sorgte für Verwunderung:

"Zur Frage, wie diese Chancen verbessert werden können, schlägt nun Österreichs oberster Lehrergewerkschafter eine radikale Systemänderung vor. "Von Schulen zu verlangen, an einem sehr belasteten Standort Chancengerechtigkeit herzustellen, ist illusorisch. Das wäre, als würde man von einem Arzt in einem Armenviertel verlangen, die Lebenserwartung der Patienten auf das Niveau einer Luxuswohngegend zu bringen", erklärt Chef-Lehrergewerkschafter Paul Kimberger."

 

Daraufhin schrieb Timo Brunnbauer, GBA-Mitglied in Linz und PV desselben Bezirkes:

 

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
lieber Paul!

Ich habe heute mit großer Verwunderung über deine Ideen zu möglichen Konsequenzen für Eltern, die sich offenbar nicht für ihre Kinder interessieren, gelesen. So etwas wie eine Sachebene konnte ich da allerdings nicht entdecken.

Ich muss gestehen: ich habe in letzter Zeit selten so Befremdliches gelesen. Einen unpassenderen "Vergleich" wie den folgenden muss man sich erst einmal zusammendenken: „Von Schulen zu verlangen, an einem sehr belasteten Standort Chancengerechtigkeit herzustellen, ist illusorisch. Das wäre, als würde man von einem Arzt in einem Armenviertel verlangen, die Lebenserwartung seiner Patientinnen und Patienten auf das Niveau einer Luxuswohngegend zu bringen“, so Kimberger im „Kurier“.

Selbstverständlich bedeutet eine umfassende ärztliche Betreuung die Erhöhung der Lebenserwartung der PatientInnen. Dies ist längst unbestrittene Tatsache. Und selbstverständlich ist es Aufgabe des österreichischen Sozialstaates, dafür zu sorgen, dass alle in Österreich lebende Menschen Zugang zur besten Versorgung haben müssen. Und eine ebenso egalitäre Rolle hat die österreichische Schule, der Kindergarten zu spielen.
Und wäre es nicht Ziel, diese belasteten Standorte mit mehr Ressourcen zu unterstützen? Ich denke, das ist eigentlich Forderung der Gewerkschaft. Allerdings wird dies mit diesen Aussagen nicht deutlich.

Mit Ideen, in den Mutter-Kind-Pass eintragen zu lassen, wie oft einem Kind etwas vorgelesen wird, wird wohl nichts zu erreichen sein. Zudem eine wahrlich absurde Vorstellung! Wird es Vorlesedetektive geben? Und ja, es ist sicher eine gute Maßnahme, prekäre Lagen durch die Kürzung von Transferleistungen noch zu verschärfen. Ich nehme an, du wirst das nicht wollen.

Ich erwarte mir eine Versachlichung und keine Kicklisierung der Diskussion. Probleme, und ja, die gibt es in großer Zahl, an vielen Ecken und Enden, lassen sich nicht durch populistische Aussagen lösen. Das solltest Du wissen. Und das erwarte ich mir vom Vorsitzenden der PflichtschullehrerInnengewerkschaft.

Als aktiver Gewerkschafter habe ich mich heute für dieses Interview im KURIER fremdgeschämt.

Mit besten Grüßen,
Timo Brunnbauer
Unabhängiger Gewerkschafter
Mitglied im GBA Linz Stadt

 

Paul Kimberger nahm sich Zeit und antwortete auf das Mail. Auch diese Antwort wollen wir (mit seinem EInverständnis) gerne wiedergeben:

 

Lieber Timo,

 

herzlichen Dank für dein E-Mail vom 15. Februar 2019, das ich doch mit einigem Erstaunen gelesen habe. Dein „Fremdschämen“ kann ich beim besten Willen genauso wenig nachvollziehen wie deine eigenartigen Schlussfolgerungen. Für mich stehen in dieser Sache folgende Punkte im Vordergrund:

 

· Die ersten sechs Lebensjahre eines Kindes dürfen pädagogisch nicht (mehr) ausgeblendet werden, weil in dieser Zeit schon oft so viele Lebenschancen verloren gehen, die später auch mit den besten didaktischen Konzepten und höchstem pädagogischem Aufwand nur mehr sehr schwer aufgeholt werden können. Der Raum für Kompensation ist erfahrungsgemäß schmal, daher brauchen wir weit mehr und vor allem auch bessere Förderangebote schon vor dem Schuleintritt der Kinder.

 

· Bei etwaigen Defiziten ist möglichst früh eine detaillierte und fachlich fundierte Information der Eltern sowie eine stärkere Sensibilisierung auf ihre Fördermöglichkeiten im Bereich der Frühkind- und Elementarpädagogik notwendig und wünschenswert. Nehmen Eltern dann qualifizierte Unterstützungs- und Förderangebote in Anspruch, könnte das im Sinne eines Anreizsystems analog dem „Mutter-Kind-Pass“ mit höheren Transfer- oder Sachleistungen honoriert werden. Sollten Eltern aber eine Kooperation grundsätzlich ablehnen - bedauerlicherweise gibt es auch solche - und damit die Entwicklungschancen ihrer Kinder vermindern, braucht es wahrscheinlich spürbare Konsequenzen, um eine Verhaltensänderung im Sinne der Verantwortung gegenüber ihren eigenen Kindern (und auch gegenüber anderen! ... darüber müsste man vielleicht auch einmal reden) herbeizuführen. In diesen scheinbar aussichtslosen Fällen könnten als „Ultima Ratio“ dann auch einmal zeitlich befristet Transferleistungen eingefroren werden.

 

· Unter dem Motto „lieber früher investieren, als später teuer reparieren“ könnten in weiterer Folge frei werdende finanzielle Mittel in pädagogisch sinnvolle Maßnahmen für unsere Kinder investiert werden. Ein Beispiel wäre hier die notwendige Doppelbesetzung in Volksschulklassen, vielleicht auch unter Heranziehung eines klugen Chancenindexes. Die Tatsache, dass der Entwicklungsunterschied von Kindern bei Schuleintritt wissenschaftlich belegt schon drei Jahre und mehr beträgt, lässt mich jedenfalls nicht gleichgültig bleiben.

 

Mir geht es also vor allem um mehr und bessere Entwicklungsmöglichkeiten für unsere Kinder (und hier ganz besonders für jene, die benachteiligt sind und unsere ganz besondere Aufmerksamkeit brauchen) und die gilt es auch aus entwicklungspsychologischen Gründen ab den ersten Lebenstagen bestmöglich zu gestalten und unterstützend zu begleiten. Wenn du das nicht willst, was mir sehr leid täte, dann musst du dich wohl weiterhin „fremdschämen“.

 

Mit gewerkschaftlichen Grüßen

Paul Kimberger

 

P.S. Die mediale Berichterstattung hat wieder einmal einen komplexen Sachverhalt sehr verkürzt dargestellt, was für die Sache selbst natürlich nicht dienlich ist.

 

P.P.S. Man darf gespannt sein, ob du den Mut und die Fairness aufbringst, auch meine Darstellung in euren Medien zu veröffentlichen.

 

Paul Kimberger

Bundesvorsitzender der Gewerkschaft

Pflichtschullehrerinnen und Pflichtschullehrer

Vorsitzender der ARGE Lehrer in der GÖD

 

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